25.1.11

Auszug aus „Gespräche mit L“:

L und ich trafen uns bei mir zu Hause. Wir hatten acht Uhr vereinbart. Ich erwarte Verabredungen immer eine viertel Stunde zu früh. Um viertel vor acht finde ich mich also in festlicher Kleidung und auf die Uhr starrend auf dem Wohnzimmerteppich wieder.

Sie kam um viertel NACH acht. Wer gibt mir diese halbe Stunde zurück?

Ich spreche sie darauf an. Sie redet sich mit einer Art „Anstandsverspätung“ aus der Angelegenheit heraus. Ich schlucke meine Wut hinunter und hole die vorbereiteten Kekse aus der Küche.

Vorbereitet = auf einem Teller arrangiert.

L lobt mein Arrangement mit lauter Stimme, lehnt die Kekse jedoch ab. Ich bin dennoch froh, sie aus der Küche geholt zu haben, denn bei dem Gang dorthin, habe ich eine Menge brodelnde Wut, die sich trotz des Runterschluckens ja noch immer in meinem Körper befand, verloren und kann L nun liebevoller und höflicher entgegentreten. Es besteht also die Möglichkeit, dass ich den Teller mit den Keksen absichtlich in der Küche habe stehen lassen, um so später einen Grund zu haben, L für einen Moment alleine zu lassen. Ich versuche mir vorzustellen, was sie in diesem Moment des Alleinseins getan und gedacht hat. Ich scheitere.

Statt Tee habe ich Kaffee gekocht, obwohl ich weiß, dass sie lieber Tee mag. Ein weiterer Vorwand, ihr aus den Augen zu gehen und Wasser aufzusetzen.

Wir sitzen zu zweit auf dem Wohnzimmerteppich, die Dialektik ist weit entfernt von intellektuellem Hitzeflimmern. Ich ärgere mich ein wenig, sie eingeladen zu haben. Die Themen sind Kindheit und Filme. Unser Filmgeschmack deckt sich nicht, auch unsere Kindheiten sind ziemlich verschoben. Mehrere Zeiteinheiten verbringt L damit, mir die Handlung eines Filmes wiederzugeben, den sie im Alter von 8 Jahren gesehen haben will:


Der Film beginnt damit, dass ein junger Mann in ein Weingeschäft („Vinothek“, unterbreche ich sie) kommt. Er ist groß und schlank, gutaussehend, trägt eine Schiebermütze aus schwarzem Twill und ist offensichtlich von dem Wunsch getrieben, einen besonders teuren und edlen Wein zu kaufen.

Wie kommt dieser Wunsch denn filmisch zum Ausdruck?, frage ich nach.

Eine Stimme aus dem Off erzählt das, antwortet sie und ergänzt: Diese Stimme berichtet auch das Detail mit dem schwarzen Twill1.

Das dachte ich mir schon fast, sage ich, ein Laie ist wohl kaum in der Lage den feinen Twill von der Beschaffenheit eines Stoffes wie Serge zu unterscheiden.

Zumal, fährt sie mir ins Wort, es ohnehin sehr ungewöhnlich ist, Mützen aus Twill herzustellen.

So fuhr sie fort mit dem, was in dem Film vor sich ging:

Der bereits erwähnte junge Mann findet den Wein seiner Träume, kauft ihn und bringt ihn zusammen mit etwas Brot und Oliven, die man auch in dem Weingeschäft erwerben kann, in seine Wohnung. Er legt sich in sein Bett und nimmt alles zusammen zu sich. Er legt sich wohlgemerkt in Straßenklamotten in sein Bett und die weißen, dünnen Laken tragen einigermaßen schweren Schaden davon. Er trinkt den Wein, isst die Oliven und das Brot und zwar so, dass alle drei Genussmittel zu gleichen Teilen an Vorhandenheit abnehmen. Die Vorhandenheit des Brotes währt allerdings am längsten. Da er nur ungern trockenes Brot ohne ein kehlen-nässendes Getränk zu sich nimmt, gießt er sich dazu ein Glas Milch ein. Er muss jedoch kurz darauf, nämlich als er einen Schluck von ihr kostet, feststellen, dass sie sauer ist. Er erinnert sich plötzlich, dass die Milch im Besitz seines etwas chaotischen Mitbewohners ist.

Ich nehme mir erneut die Freiheit Ls Erzählung zu unterbrechen, um sie nach der Gattung des Filmes auszufragen.

Handelt es sich um einen dramatischen Film, frage ich, oder ist es eher eine Komödie? Denn, wenn es eine Komödie ist, dann würde ich sagen, dass diese Figur des „etwas chaotischen Mitbewohners“ mehr als augelutscht und unoriginell ist. Zumindest für jemanden, der sich in den vergangenen, verlorenen Jahren eingehend mit Cineastik beschäftigt hat.

Sie verneint mit denkend zusammengezogenen Augenbrauen beide Gattungen und stellt dar, dass es so eine Art Zwischending sei. Sie habe nicht gewusst, ob sie heulen oder lachen solle. Vor allem bei dem berührenden, aber auf seine Art auch komischen, Ende des Werkes.

Im Folgenden beschreibt sie das Ende des Filmes, greift also gewissermaßen vor:

Der junge Mann, der zu Beginn des Filmes den Wein, das Brot und die Oliven erwarb, um sie daheim in weiße Laken und Straßenkleidung gehüllt, zu essen, hat sich mittlerweile in die Frau eines Klopfgeistes verliebt, die in dem hier herrschenden filmischen Kontext stets „die Haselhexe“ genannt wird. Eine Bezeichnung, so stimmen L und ich überein, die nicht im geringsten zu der Braut eines Klopfgeistes passt. Zwar sind beide magische Spukgestalten, allerdings ist der Mythos der Haselhexe2 weitaus vielschichtiger und interessanter als der, der sich um die ja hinlänglich bekannten Klopfgeister3 rankt. Der Filmeschreiber, so stellen L und ich fest, hat offenbar keinen blassen Schimmer von europäischen Mythen und verwendet – nein: missbraucht! - ihre Namen nur um seine Gier danach zu stillen, den Stoff für einen möglichst verschrobenen und skurrilen Film zu schaffen. Gemeinsam ärgern wir uns über ihn. Ich frage nach dem Namen dieses „gottverdammten Verbrechers“, sie weiß ihn jedoch nicht mehr. Ich gebe bekannt, dass ich nicht bereit bin, mir weiter derartigen Stuss anzuhören und wechsele das Thema, indem ich L von meinem Bezug zum Fleischessen berichte.

Die Kunst der Fleischzubereitung ist, sage ich, dass der Konsument eine größtmögliche Distanz zum geschlachteten Tier gewinnt. Das Fleisch muss derartig verarbeitet sein, dass sich nicht erkennen lässt, um was für ein Lebewesen es sich einmal gehandelt hat, geschweige denn von welcher Stelle des Körpers es entnommen wurde.

Mir ist der Name des Filmeschreibers wieder eingefallen, sagt L.

Ich spreche von einem Weg, zu verdrängen, dass man sich am Geschmack des Todes labt, führe ich meine Überlegungen weiter aus. Auf keinen Fall darf man das Verderben am Gaumen spüren. Zu keinem Zeitpunkt darf einem bewusst werden, dass für dieses Mahl gemordet wurde.

Sein Name ist Aemilius Fraser, sagt L.

Die Not und das Leid des Tieres, sage ich, in dem Moment, in welchem der Schlachter den Bolzen in sein Gehirn jagt. Diese Panik, man schmeckt sie, wenn Fleisch schlecht zubereitet wurde. Ein berühmter und bewundernswerter Koch kann die Panik so gut verstecken, dass man mit reinem Gewissen isst. Diesen Koch habe ich jedoch noch nicht gefunden.

Aemilius Fraser, sagt L, er ist glaube ich gar nicht so unbekannt.


1Eine Methode der Stoffverarbeitung, keine Bezeichnung eines Stoffes, wie hier sowohl von L als auch von mir fälschlich vorausgesetzt wird. Ein „Twill“ wird oft bei der Herstellung von Jeans verwendet, in den seltensten Fällen bei Mützen.

2Vor 100 Jahren kamen einige Kräuterhexen in einem Tiroler Alpendorf zusammen, um gemeinsam die Magd eines dort ansässigen Bauernhofes zu kochen und daraufhin zu verspeisen. Sie vollbrachten die schreckliche Tat jedoch in dem beruhigenden Wissen und der erleichternden Übereinkunft, dass sie nach vollendetem Schmaus mit Hilfe der Magie, ein exaktes Abbild der Magd erschaffen würden, sodass keiner der Dorfbewohner den Mord bemerken würde. Für die magische Wiederbelebung der Magdimitation waren jedoch ihre Knochen von Nöten, die sie daher sorgsam abnagten und im Stroh der Scheune versteckten. Sie legten sich schlafen und wollten bei Morgengrauen mit den magischen Maßnahmen zur Verschleierung ihrer Hexenhaftigkeit voranschreiten. Es begab sich allerdings, dass der hofeigene Knecht in dieser Nacht wach lag und die spitzen Schreie der Magd aus der Scheune hörte, derer er mehr als ein Mal (sehr) nahe gekommen war, ihm die Schreie ergo nur zu bekannt waren. Voller Sorge stahl er sich aus dem Haus, um durch einen Spalt im Scheunentor das schreckliche Schauspiel zu verfolgen. Er war ein gescheiter Mann und durchschaute die Hexen sofort. Auch war ihm bewusst, dass das Wesen, was die Weiber zur Tarnung im Morgen hatten erschaffen wollen, in keiner Weise die Gewandtheit und Schönheit seiner begehrten Magd haben würde, sondern einem Roboter gleich, nur ein totes Abbild von ihr wäre. Er würde sie nie mehr so lieben können wie damals. Verbittert über diesen Gedanken, wartete er bis die Hexen satt und müde eingeschlafen waren, schlich sich dann in die Scheune und klaute eine Rippe der Magd aus dem Stroh.

Als die Weiber erwachten suchten sie vergeblich zwischen den Gebeinen nach dem fehlenden Knochen. Sie dachten, sie hätten ihn verloren und gaben sich gegenseitig die Schuld für dieses Missgeschick. Schließlich benutzten sie statt der Rippe ein Stück Haselholz.

Die Imitation der jungen Frau erwachte, nachdem der Zauber vollendet war, und schritt in die Küche, um wie jeden Morgen das Essen zuzubereiten. Der Knecht erwartete sie dort jedoch schon, zeigte ihr die Rippe und sprach: „Du bist eine Haselhexe.“ Daraufhin fiel sie tot zu Boden. Ebenso verwandelten sich die Hexen in Haselnüsse. Ihr Schwindel war aufgeflogen, ihre Schuld belegt und bewiesen.

3Ein Geist, der klopft.

3 Kommentare:

  1. mhm, ich kann auch ein frischgeschlachtetes nahezu vollständiges huhn lecker zubereiten und dann mit gutem gewissen essen - und ich bin nicht der schlimmste carnivore aller zeiten oder mir irgendwelcher massentierhaltungsgreuel nicht bewusst. aber ich finde fleisch fast besser, wenn ich das tier dahinter noch spüre. bei mcdonalds hingegen würde ich nie fleischliches essen; das erinnert mich alles an sägespäne.

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  2. Voll spannend.
    Wann gibt's denn das Buch 'Gespräche mit L' zu kaufen?

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